Vom Miteinander – Erzählungen

Victoria Hohmann Erzählungen

Info

ich stehe beim Feuer / wie die anderen / wir kennen den dicken Ulrich / Schwarze rösten, Farbige flämmen, schön durch / oder bloody / hungrige Augen / fressen / Flammen verzehren den Dachstuhl / aber die Feuerwehr / so ein Lärm um / freiwillig / das glaubt doch kein Schwein / mit den Pistolenmündungen der Bundespolizei im Genick / WASSER, MARSCH! / ich könnte laut lachen, wenn ich nur könnte HA, HA, HA / die Schläuche / Wasseradern aus Plastik / Löschwagen im Blaulicht / gegen das glühende Gebälk / die Nacht / Hell / das ist mein Neujahr / sagt mein Vater / er flüstert / noch muss ich flüstern / sagt er

(aus: Stück Welt (eine Textcollage für das Affentheater hier), in: Vom Miteinander)

 

KLAPPENTEXT:

Ein Hasskommentare-Schreiber, der sich verliebt. Ein Patchworkfamilienversuch. Eine junge Frau, die sich aus dem Internet ausklinkt. Familieninterne Kriegstraumata. Suche nach Heimat. Total egale Gleichschaltungsfantasien. Die Bedrohung des Klimawandels, die ein Dorf in den Wahnsinn treibt. Dazu Paare, die nicht miteinander und nicht ohneeinander leben können, die sich finden, verlieren oder verlieren und finden.

Victoria Hohmann spielt erneut mit Textaufbau, Stilmitteln, Erwartungen, mixt ihrer Prosa lyrische und dramatische Elemente bei, hier erzählender, da rhythmischer, dort ausdrücklich zum laut Lesen auffordernd. Wie in den Erzählbänden „Vom Dazwischen“ und „Von Verwandlungen“ versammelt die Autorin einen Strauß Geschichten, bunt und erfindungsreich, inszeniert aktuelle Problematiken unserer Zeit in vielen kleinen Szenen.

13 Texte, Taschenbuch, 294 Seiten, schwarze Trennseiten, 17 EUR. 

(Texte: Zum Jahreswechsel, Transposition, Polyphones Kopfhören, Stück Welt (eine Textcollage für das Affentheater hier), Anni analog, Alle gleich (ein Gedankenspiel in es-Moll), Hater III, Pferde stehlen, Neumann, Helene und Dirk, Speed-Hiking, Die Beregnungsgemeinschaft, I <3 (Sprechtext zum laut Lesen)).

 

An der Hinterwand norddeutscher Steppenkulisse sinkt ein Feuerball ins Meer. Sein Magnetfeld weitaus stärker als lunare Verlockung. Und so steigen sie aus ihren Gräbern. Die Zombies Hebeborns.

(aus: Die Beregnungsgemeinschaft)

 

Helene, Dirk. Durchgeschüttelt vom. Miteinander. Haarsträubendes Miteinander. Durcheinandergewirbelt von Jahren. Ineinander verkettet, verklettet. Delene, Hirk. Ein Ineinander-Ragen ist das, ein gesplittertes. Logisches Nachvollziehen ursprünglicher Verhaltensmuster längst unmöglich. Durchpflügter Wust. Charakterbrei. Schwammige Anwesenheiten. Da hilft nur. Wegschauen. Dr. Freud hat aufgegeben. Nicht nur er. Delene, Hirk. Mann, Frau. Wer was davon? Wer wessen? Keine Ahnung. Da blickt doch niemand mehr. Durch.

(aus: Helene und Dirk)

 

Der Laptop. Das Tablet. Das Handy. Anni kann sie nicht mehr. Auch nicht mehr anfassen. Jede Berührung Übergriff. Wichtig, WICHTIG, WICHTIG. Schreien Schlagzeilen, Anzeigen, Posts, Spots, Gifs. Werbung poppt auf, Cookies, Videos verlangen: anklicken. World wide zirkuliert Welt, zirkulieren Welten, Stirn an Stirn, auf Datenautobahnen mit erhöhtem Verkehrsaufkommen, endlos Rushhour. Rücklichter wie Ellbogen, Aufreiben im Vorwärtsdrängen, Scheinwerfer-Egos, Aufblender wie Treibjäger, an Stoßstangen hängend (…)

(aus: Anni analog)

 

Die Frau steht vor der Tapete, Teerfilm. Der sich abspult, vor ihren Augenhöhlen. Stadtansicht. Krabbelstube. Wo Gefiederte Federn lassen. Alles vermeintlich in ein großes Ganzes. Suppt. Konstrukt des Miteinanders. Sich spinnt. Stadtgrenzenweit. Zurecht. Vielleicht.

(aus: Zum Jahreswechsel)

 

 

Ich bin mitten durch den Krieg gegangen. Ich ahnte nichts davon. Er lag nur auf dem Weg. (…) Ich ging und die Sohlen wurden durchlässiger. Die Straßen brannten sich in meine Füße. Niemals werde ich die Schreie der Kinder vergessen. Das Brüllen der Motorräder. Was es heißt, allein zu sein.

 

(aus: Pferde stehlen)

 

Die Adolfstraße, beispielsweise, habe man umbenannt. Überall, in der Regel. Bei anderen Namen sei das. – Ob es noch eine Schützenstraße gebe? – Schützenstraße? (…) Er werde das sofort. Sehr gerne sogar. Einen Moment. T.S. Ellmann überprüfte. Und fand nur eine Schützenstraße in der Stadt – vor und nach dem Krieg. (Er schämte sich dafür.)

(aus: Neumann)

 

Die Ersten unter Gleichen, die fordern ja dauernd das Gleiche: lauter Gleichere, unter ihre Daumen. Darum bin ich mir in letzter Zeit selbst oft so gleich. Vielleicht. Sehe ich den Grund auch nicht mehr. Täusche mich. Über mich selbst hinweg. Sehe nur noch Differenzen, Indifferenzen in der Masse der Égalité. / Mensch, warum sind wir alle gleich immer so ungleich – so ungleich sind wir uns alle ja gar nicht –

(aus: Alle gleich (ein Gedankenspiel in es-Moll))

 

Ich. Lernen etwas nicht zu tun, kann kräftezehrender sein, als etwas zu tun. Vor allem, wenn man das Wenn nicht los wird. Was wäre wenn und wenn und wenn und wenn dann und wenn dann und wenn dann nicht und wenn dann doch und wenn, wenn, wenn.

(aus: Polyphones Kopfhören)

 

Der Mann. Will es herausfordern, sich. Sehen, ob es noch schmerzt. Verblassende Liebe, im Herbarium rarer Herzblätter.

(aus: Hater III)

 

Ich habe Männer geliebt. Ich habe Frauen geliebt. Ich habe junge Männer und ältere Männer geliebt. Ich habe junge Frauen und ältere Frauen geliebt. Ich habe Frauen und Männer im besten Alter geliebt. Ich habe Heterosexuelle geliebt. Ich habe Homosexuelle geliebt. Ich habe Transsexuelle geliebt. Ich habe geliebt. Ich habe Sex gehabt. Ich habe mit Männern und Frauen Sex gehabt.

(aus: I <3 (Sprechtext zum laut Lesen))

 

Und jetzt. Eine Message. Einfach so. Plopp. Ein elektronischer Impuls. Der das das Gitternetz einer Kommunikationsverkettung durchzuckt. Ohne sich zu entladen. Im Gegenteil. Der auflädt. Einfach alles. Nicht nur die eigene sterbliche Leibeigenschaft. Sinn-Akku. Mit einem Schlag wieder auf über 50%. – Hallo Pier. Ist das noch… Warum tut er sich das an? (Szenenwechsel)

(aus: Transposition)

Rezensionen

  • Mal sind die Texte sehr assoziativ-experimentell, begeben sich in die Gefilde von Lyrik und Dramatik, und mal sind sie eher prosaisch. Manche konnten mich sprachlich und thematisch total überzeugen, andere wiederum haben mir irgendwie nicht so viel gesagt oder waren mir in stilistischer Hinsicht ein bisschen zu unkonventionell. Alle jedoch habe ich als sehr erkundungswürdig empfunden.

  • Diese Sammlung lohnt die Beschäftigung damit, denn danach wird man wahrscheinlich anders auf alltägliches und nicht-alltägliches/mitunter abstruses Aufeinandertreffen verschiedenster menschlicher Charaktere sehen. Kommunikation, Antizipation sozialer Handlungen, Intra- und Intergruppenprozesse - kurz das Miteinander in seinen vielen, verschiedenen Facetten. Sehr schön.

  • Ich weiß nicht, ob für die Literatur das Gleiche gilt wie für die Musik: dort wird meist gesagt, dass 3. Album wäre das sogenannte „Make or Break“-Werk. Sprich: entweder man hat sich bis dahin eine solide Fanbase aufgebaut, die die Band ohne Wenn und Aber unterstützt oder man verschwindet wieder in der Bedeutungslosigkeit der (überfrachteten) Musiklandschaft.(...) Victoria Hohmann (hat es) mit ihrem 3. eigenen Erzählband „Vom Miteinander“ (...) definitiv geschafft, sich in der Garde der herausragenden und sich um den Erhalt der Kunst der Worte kümmernden Schrifsteller*innen zu etablieren. Ja, ich weiß: das klingt nach „übertriebener Blick durch die rosarote Fanbrille“. Aber auch wenn ich die Brille für einen Moment absetze, sehe ich trotzdem noch in „Vom Miteinander“ ein Feuerwerk der Sprachkunst, dass nur wenige Autor*innen überhaupt entzünden können.