Die Frau
Clara Viebig
(1. Fortsetzung.)
Der Michel war nur ein geringes Knechtlein. Die Kinder, das Mädchen und der Bub, hänselten ihn oft, als sie jetzt größer wurden: „Michele, dumm’s Michele!“, aber dann wurde die Mutter böse. Die Frau sah auf ihren Knecht mit Wohlgefallen, und sie schenkte ihm die Hosenträger, die der Kußmaul angetan hatte am Sonntag, und das gestreifte Hemd, und schenkte dem Knecht auch die Pfeife, daraus der Herr geraucht hatte. Der kam ja doch nicht mehr wieder.
Die Kinder wussten nicht anders: Ihr Vater war tot. Die Mutter hatte es so gesagt. Und die Leute im Dorf schwiegen — es war eine Zartheit in diesem Schweigen — wozu es den unschuldigen Kindern so früh schon sagen, dass ihr Vater im Zuchthaus war? Aber wie mochte es wohl dem Kußmaul im Zuchthaus gehen? Ob er noch lebte überhaupt? Sie machen’s alle im Zuchthaus nicht lang. Und der Kußmaul sicher nicht, der immer daran gewöhnt war, in freier Luft und Sonne zu leben, der schon als Vierjähriger die Geißen gehütet hatte und mit nackten Füßen durch den kalten Schnee ging, als wäre der ein warmes Daunenbett. Er hatte auch niemals geschrieben, der Mutter nicht, und seiner Frau nicht.
Mit der Frau war er zu böse. Die hätte ihn schändlich im Stich gelassen, ihre Aussage verweigert, obgleich sie doch bezeugen konnte, bezeugen musste, dass er gewiss und wahrhaftig ohne Schuld war, ein friedfertiger, sanftmütiger, ruhiger Mensch. So beklagte er sich. Wer aber den Blick bemerkt hatte, den er nach seiner Frau hinschoss, die in der Zeugenbank saß und stumm weinte, der musste denken: Wenn er an die käme, die könne sich gratulieren.
Und an diesen Blick, den sie wohl bemerkt hatte, trotz des vorgehaltenen Taschentuches, musste die Frau jetzt viel denken. Seit sie in einer Nacht, nachdem der Knecht von ihr gegangen war, von ihrem Mann geträumt hatte. Es war ein schrecklicher Traum: blaue Flecke, Liebkosungen, Schläge — und Blut, lauter Blut. Der Blick war lebendig geworden: Er blitzte sie drohend an aus schmalen, scharfen Augen, er schoss auf sie wie ein Pfeil, er traf, er durchbohrte — er tötete. Und seither, fürchtete sie sich. Wenn er nun doch wiederkäme — ?!
*
Über zehn Jahre waren nun vergangen, seit der Bender hinter der Hecke erstochen gelegen hatte, und auf den Tag zehn Jahre grade, dass der Kußmaul ins Zuchthaus gekommen war. Der große Krieg war übers Land gegangen und hatte Männer gemäht wie Gras. Auch die Männer des Dorfes. Den lahmen Michel hatte man draußen nicht brauchen können, er war nach wie vor der Witwe Kußmaul verblieben. Die zählte sich ganz zu all den anderen Witwen des Dorfes, knüpfte ein schwarzes Tuch um ihre Zöpfe und war fromm geworden. Sie hatte sich den Stundenleuten angeschlossen, deren es jetzt viele im Dorfe gab.
Die Unruhe einer aus der gewohnten Ordnung gekommenen Welt, deren ängstliches Flügelschlagen man selbst jenseits aller Städtemauern bis hier hinauf zu den ländlichen Einsamkeiten verspürte, trieb die Menschen in der großen Hofstube zusammen, die der Wirt vom Hirschen eingeräumt hatte. Da fanden sie sich fleißig ein in dämmernden Stunden, insonderheit die Weiber, und lauschten den Ansprachen, die der Stundenälteste oder ein dazu Erwählter, ein vom Herrn Berufener, mit allem Unverstand, aber mit einer Hingabe hielten, die an Verzückung grenzten. Denn es stand im Propheten geschrieben: „Ich will meinen Geist ausgießen über alles Fleisch, eure Söhne und Töchter sollen weissagen, eure Ältesten sollen Träume haben, und eure Jünglinge sollen Geschichte sehen.“ Was der Gottesdienst in der Dorfkirche und die verständige Predigt des Pfarrers den Frommen nicht gab, das gaben ihnen diese Zusammenkünfte, die sie dem heimlichen Beieinandersein von Jesus und seinen Jüngern gleich erachteten. Kahl war die Hofstube, weiß getäucht ihre Mauern, aber an der nackten Wand hing das Kruzifix, an das sich sehnsüchtig umflorte Blicke hingen — dieses war der Wegweiser in ein erlösendes Jenseits, hier fand die Seele die Heimat, die Ruh‘.
Hier suchte Dorothea Kußmaul Unterschlupf vor dem Blick, der sie verfolgte: Vor der Angst, die sie ganz plötzlich so überfallen konnte mitten am Tag, mitten im Schaffen auf dem Acker, dass ihr das Wort, das sie zu ihrem Michel sprechen wollte, starb und ihr eben noch lachendes Gesicht sich versteinte in einem Entsetzen. Aber so sehr sie auch rang im Gebet, auf ihren Knien hart liegend, sie gewannt es sich nicht ob, so gefasst, so gestärkt, so beruhigt heimzugehen aus der Stunde wie die anderen. Sie habe eben noch nicht den rechten Glauben, sagte Vater Heller, der Stundenälteste, dem sie es einmal klagte, wie hart sie um die himmlische Ruh‘ ihrer Seele ringen müsse.
„Betet! Ihr müßt fleißiger beten, Dorle! Und lest auch in der Heiligen Schrift. Die muss man sich deuten.“
Ach, beten, das tat sie, sie konnte ja gut lesen, sie war in der Schule immer die beste gewesen.
Aber es war ihr jetzt oft, als verkehrte sich ihr der Sinn des Gelesenen, sie verstand es nicht mehr.
Immer die Angst, die große Angst! Sie hatte es gehört: Jetzt kamen Menschen wieder, die man tot geglaubt hatte. Im Nachbardorf war eine Frau, der hatte die Kompagnie den Tod ihres Mannes angezeigt, und wo und wann gefallen und begraben, und nun war der auf einmal doch wieder da.
Konnte sich das Zuchthaus nicht auch auftun? Tote stehen auf, Gefangene werden frei, kehren ins Leben zurück — würde er auch wiederkehren?! Und sie richtete den fragenden Blick hinauf zu dem Stern, der allabendlich ihr ins kleine Fenster hereinflinzelte. Aber sein freundliches Blinzeln kam ihr hämisch vor und verhieß ihr nichts Gutes.
Und über ihre Kinder ärgerte sie sich auch. Die wussten es jetzt, wo ihr Vater noch lebte. Das Mariele hatte sehr geweint: Ihr armer Vater im Zuchthaus! — Aber der Bub hatte mit der Faust auf den Tisch geschlagen: Das war schändlich, einen Menschen einzusperren, bloß weil er einen anderen unglücklich im Streit gestochen hatte!
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