Mobbing war eine Konstante meiner Kindheit. Sie hatte keinen Namen, oder zumindest kannten ihn die wenigsten, weshalb diese spezielle Form der Gewalt auch selten im Gespräch war. Sie war das Wetterphänomen eines zu heiß gelaufenen und längst gekippten Sozialklimas, und du wurdest einfach so hineingeboren. Den meisten war der eigene Vater der erste Bully. Er gehörte einer Vätergeneration an, die früh Kinder bekommen hatte, zu jung und überfordert mit der Verantwortung und deshalb heilfroh war, dass es eh kein Schwein interessierte, wie du mit dem Nachwuchs umgingst. War ja deiner. Ging keinen was an. In den 90ern schickte man dich dann auf eine märchenhafte Reise durch das marode Schulsystem der BRD. Darin wurde überwiegend noch im preußischen Stechschritt gelehrt und auf den Schultern der Weisen hinterm Pult lasteten neben einem Bildungsauftrag die Versäumnisse zahlloser Legislaturperioden.
So viel zum Setting.
Bei meiner ersten Mobbingerfahrung in der Schule nahm ich die Rolle des Täters ein. Zu Hause hatte ich also gelernt, wie man sich zu verhalten hat, vor allem, wenn man ein Mann sein will, deswegen ging ich eines Morgens in die Schule und da saß F. wie immer auf seinem Platz nahe der dunkelgrünen Tafel. Ich betrat den Klassenraum, ging zu ihm, sagte: Ey! und er schaute fragend zu mir auf. Ich ballte die Faust, wie meine fiktive Lieblingsfigur im Fernsehen, und schlug ihm damit so fest ich konnte in den Bauch. F. krümmte sich zusammen und begann sofort zu weinen.
Die Szene enttäuschte jede Erwartung. Sie war weder witzig, noch fühlte ich mich stark, im Gegenteil. Ich sah nur einen Jungen, den ich kaum kannte, und der jetzt weinte. Wegen mir. Und weil im überfüllten Grundschulklassenraum eh wie immer Chaos herrschte, über das die Lehrerin selten den Überblick hatte, begann zehn Minuten später einfach der Sachkundeunterricht. Verpfiffen hatte F. mich nicht. Ich war ungeschoren davongekommen.
Dieses frühe Ereignis ist auch mein erster Konflikt mit eben jenem Rollenbild, in das man Menschen meines Geschlechtes kleidete. Die äußere Erwartung clashte an einem sehr schlechten Gefühl von innen, und ich entschied damals insgeheim, der Erwartung einfach nie wieder nachzukommen. Weil der Preis zu hoch und das Ergebnis so unbefriedigend waren. Auf meiner Reise sah ich andere Jungs ähnliche Experimente machen. Aber ganz anders als ich schienen die meisten mit dem Ergebnis sehr zufrieden zu sein. Sie gingen sogar weiter, schlossen sich zu Klüngeln zusammen, in denen man noch stärker war, und irgendwann kristallisierte sich in dieser Dynamik eine ganz bestimmte Figur heraus, der ich an so ziemlich jeder Schulform begegnet bin. Und ich war an fast jeder Schulform, die das System zu bieten hatte.
Da war zum Beispiel A., in der fünften Klasse, die man regelmäßig beleidigte und als sehr eklig empfand. Sie lispelte, kam oft zerzaust und schmutzig zur Schule. Und B., in der Sechsten, den man täglich verprügelte und gemeinsam auf dem Schulhof bespuckte. Oder die dicke I. aus der Achten, die sogar von den Lehrer*innen verachtet wurde und von der die Jungs in schallendem Gelächter sagten, dass sie die in 100 Jahren nicht ficken würden.
Fabian Feßmann ist ein fiktives Konglomerat all dieser Menschen. Im Geschichtsunterricht schrieb man Lernzielkontrollen über die Bullys der düstersten Kapitel deutscher Geschichte und in der großen Pause suchte man den hiesigen Feßmann auf, beleidigte ihn, schlug ihm ins Gesicht, bespuckte ihn. Um sich männlich oder mächtig zu fühlen. Nicht jeder quälte mit, aber niemand wagte es, seine eigene Position für das Wohl dieser Leute aufs Spiel zu setzen. An einer Schule sah ich dann mal, wie ein ganzer Kulturbetrieb um einen Jungen errichtet wurde. Ein elitärer Zirkel aus kleinen, männlichen Schreiberlingen schrieb satirische Geschichten über ihn, in denen er Protagonist war und alles verkörperte, was es zu hassen galt.
Und neben allen Besonderheiten gab es immer und überall – Witze. Sie waren kurz, kompakt, verbreiteten sich grippeartig und das Lachen ließ sie so tief in dich einsickern wie nichts sonst. Witze und Sprüche waren neben Fäusten und Messern das Perfideste, was ich damals gesehen habe, denn in ihnen vereinten sich Gewalt und Kreativität zu einer grausamen Waffe. Das Opfer musste nicht mal anwesend sein, damit du ihm schaden konntest, und gleichzeitig kamst du nicht in den Jugendknast, wenn man dich dabei erwischte. Aus diesem Grund habe ich in meiner Novelle den Humor als exemplarisches Mobbinginstrument gewählt. Ich wollte eine Geschichte über dieses Phänomen schreiben, über die Selbstverständlichkeit, mit der man Menschen aus rein egoistischen Beweggründen quält. Paradoxerweise dachte ich mir dazu jetzt selbst solche Sprüche aus und baute sie immer erst dann in den Text ein, wenn ich selbst laut darüber lachen musste. Ich begab mich bewusst in eine fiktive Täterrolle, damit nicht nur die Darstellung, sondern auch der Effekt beim Publikum möglichst authentisch ausfällt. Lachen sollten die Leute, sollten an sich selbst erfahren, wie empfänglich sogar die tolerantesten unter uns für diese verschleierte Form der Gewaltpartizipation sind.

Als ich dann Anfang des Jahres zum ersten Mal mit dem Text auf eine Bühne ging, bekam ich ziemlich weiche Knie. Ich las ihn bei der Großen Eugen von Groblock Revue in Berlin-Neukölln. Der Laden war voll und ich dachte: Wenn jetzt keiner lacht, war alles umsonst, die ganze Arbeit, das einzige, worüber dann noch irgendwer lacht, bin ich. Und mein bescheuertes Buch. Ich las meinen Text, erreichte die entsprechenden Stellen und – niemand lachte. Es war still im Saal und ich starb, mitten auf der Bühne, sah auch das Publikum im hellen Scheinwerferlicht nicht, zog aber die Lesung bis zum bitteren Ende durch und meldete im Innern schon eine Niederlage an. Hinterher sagten die Leute dann, sie hätten sich stark beherrschen müssen, nicht zu lachen, sich teilweise sogar Hände vor die Münder gehalten und ich erkannte, dass ich einen Fehler gemacht hatte. Ich hatte Fabian als Opfer von Gewalt angekündigt und dadurch die Witze als etwas moralisch Bedenkliches markiert, worüber „man eigentlich nicht lacht“. Hätte ich nichts gesagt, hätten viele wahrscheinlich zu ihrem Lachimpuls gestanden und ihn auch geäußert. Ausgelöst hatte ich ihn aber trotzdem.
Die Idee zu Feßmann hatte ich 2017. Zuerst spielte das Ganze in der Gegenwart und trug den Arbeitstitel Fettnovelle. Der Text funktionierte damals nicht wirklich gut, weshalb ich ihn erst mal liegen ließ. Im Februar 2019 begann ich dann einen Podcast mit Rick Palm zu produzieren, in dem wir über seine Transition und über Diskriminierung sprachen. Diese Gespräche zündeten den entscheidenden Funken und so entstand der Text in seiner heutigen Form. Überhaupt war ich nur in der Lage, dieses Buch zu schreiben, indem ich mir neben meinen eigenen Erfahrungen auch Geschichten von anderen anhörte. Geschichten über Fremdenfeindlichkeit, Sexismus, Diskriminierung. Ohne die schlimmen Dinge und armen Menschen, deren Leid ich selbst beobachten musste, ohne Gespräche mit Opfern, Betroffenen und auch ohne die Kritik an meinem Text, wäre das Buch heute nicht wie es ist. Einer dieser Menschen hat sich 2019 überraschend das Leben genommen. Eine Freundin, die mir sehr nahestand. Sie zerbrach an der Gewalt und den Nachwirkungen, denen man in unserer Kultur an bestimmten Stellen ausgesetzt ist. Sie hat es nicht mehr lesen können. Von ihrem Tod habe ich mich noch nicht vollständig erholt. Um mir dabei zu helfen, habe ich ihr das Buch gewidmet. Deshalb und weil sie zu denen gehörte für die ich es letzten Endes geschrieben habe.
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